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100 Miles Of Istria – Grenzen gibt es nur im Kopf

  • 168 km
  • 6539 HM
  • 38:17:08
  • 6. April 2018
  • 167 von 229 Herren 64 von 92 AK

Vorbereitung

Die Idee meinen ersten Hundert Meiler zu laufen, wurde eigentlich erstaunlich schnell gefasst und umgesetzt. Nach meinen Starts beim TAR, Mozart100 und MIUT habe ich das Gefühl, dass ich alle Distanzen schaffen kann, so lange ich mich vernünftig vorbereite und mit der passenden Einstellung an der Startlinie stehe.
Warum aber 100 Meilen? Selbstbestätigung? Bestätigung von der Ultratrail-Community? Übermut? Vielleicht von allem etwas. Klar ist mir nur, dass ich die Entscheidung zu keinem Zeitpunkt bereut habe – auch wenn ich vielleicht keinen weiteren mehr laufen sollte, aber wer weiß das schon…
Istrien ist mir von meinem Start über die 65km in 2016 noch extrem positiv in Erinnerung gewesen und bietet sich auf Grund des Termins im April und der guten Rahmenbedingungen auch an. Es soll kein hochalpiner Lauf mit 9000 oder mehr Höhenmetern sein, sondern die laufbare Komponente betonen.
Auf jeden Fall will ich sehr gründlich vorbereitet sein und hatte mir von November bis zum Start im April einen für mich sehr harten Trainingsplan mit unzähligen sehr langen Läufen um die 50 bis 90km aufgestellt – und ihn nun nicht eingehalten… Zu viele Läufe dieser Art, zu viele Kilometer in der Woche, die ich zeitlich und körperlich nicht leisten konnte oder vielleicht auch wollte. ABER es wurden doch zahlreiche Läufe über 30 bis 50 Kilometer, mit denen ich ein gutes Gefühl habe. Lang und langsam kann ich am Ende der Vorbereitung definitiv und versaut mir damit mein Tempo für das restliche Jahr. Ein Finish entschädigt mich hoffentlich…

Schuhwahl

Lange grübelte ich über die richtige Schuhwahl für meinen ersten 100 Meilen Ultratrail und schwankte zwischen dem Adidas Terrex Agravic und dem Salomon Sense Ride. Im Raum stand auch die Möglichkeit, während des Wettkampfes die Schuhe zu wechseln, aber alle Gedankenspiele der letzten Tage wurden nun beendet, weil mein lauffreudiger Salomon nach nicht einmal 300km Auflösungserscheinungen am Meshgewebe zeigt und mich der Agravic an den Zehen drückt. Also musste ein neuer Schuh unbedingt her und das ganz schnell, damit ich ihn beim Pommel2K noch testen konnte. Nachdem ich vom Hoka One One Mach so angetan bin, wollte ich einen Trailschuh dieser Marke ausprobieren und hatte genau zwei Modelle zur Auswahl: Speedgoat oder Mafate Speed.
Weil der Mafate Speed der stärker dämpfende und vor allem stabilere von beiden sein soll, wurde dieser aus dem Regal genommen und gleich beim Testwettkampf ausprobiert – erfolgreich! Damit konnte ich hier einen Haken darunter setzen

Uhr

Klar war mir, dass meine FR935 von Garmin nicht genug Akkulaufzeit bieten würde, um mich über diese lange Zeit begleiten zu können. Ich wollte jedoch permanent eine ordentliche Zwischeninformation haben und im Nachgang eine ordentliche Aufzeichnung vorweisen können. Deshalb besorgte ich mir noch eine sehr kleine Powerbank mit einem für die Größe hohen Ladestrom (nicht so einfach zu finden), um während des Rennens die Uhr vom Handgelenk zu nehmen, an das Kabel zu hängen und im Rucksack während des Ladevorganges weiter aufzeichnen zu lassen. Im Nachgang betrachtet hat es gut funktioniert und ich würde es jederzeit wieder so machen.

Vortag

Wie bei vielen Wettkämpfen dieser Art stand am Vortag die Gepäckkontrolle an, d.h. mein TAR-Partner Andy und ich sind mit fertig gepackten Rucksäcken zur Mehrzweckhalle in Umag, dem Ziel- und Veranstaltungsort, getigert, waren zum Glück zu früh dran, mussten nur kurz warten und wurden dann stichprobenartig kontrolliert. Eigentlich ein sinnloses Vorgehen, weil ich den Rucksack danach wieder leeren könnte und niemand würde es merken… Vielleicht eine versicherungstechnische Angelegenheit?

Andy und ich vor dem Start in der Mehrzweckhalle in Umag
Andy und ich – die Vorfreude ist bei uns Beiden vorhanden

nach der Abholung der Startunterlagen
Es gab sogar ein „spezielles“ Trailbier zur Veranstaltung – eine gelungene Idee

Der Renntag

Der Weg vom Zielort Umag zum Startort Labin zieht sich mit dem Auto, wenn die gebührenpflichtigen Straßen gemieden werden. Das ist uns aber egal und wir brechen einfach schon nach dem Frühstück gemütlich auf. Zusammen mit Andy, seiner Freundin Christine und der Ehefrau eines Läuferkollegens (er wollte lieber mit dem offiziellen Shuttlebus des Veranstalters fahren, sie mit uns) von Andy fahren Mareike und ich im kuschlig vollen Micra an die Ostküste Istriens.
Dabei erblicken wir den Gebirgszug unserer ersten Nacht, welcher mich derzeit noch mit Stolz flutet und noch keine große Anspannung verursacht. Hoffentlich kostet er nicht mehr Kraft als erwartet…
Zu früh erreichen wir Labin, weshalb wir ganz entspannt durch die historische Altstadt schlendern und anschließend gemütlich zu Mittag essen. Der Start ist für 17 Uhr angesetzt und so bleiben Andy und mir noch genügend ruhige Momente um alles vorzubereiten und vor Anspannung nun langsam aber stetig fast zu platzen (zumindest ich).

Letzte Vorbereitungen direkt vor dem Start
Langsam alles vorbereiten

Selfie vor der langen Reise
Das Wetter passt – warm, aber nicht heiß

Die letzte halbe Stunde vor dem Start werde ich nun richtig unruhig, tippel auf und ab, rede viel, bewundere all die sportlich aussehenden Mitläufer und lache über den Streckenchef, als er vom Schnee auf dem Učka erzählt. Meine Mareike bleibt gelassen und lässt sich ihre Anspannung nicht anmerken – dabei bedeuten solche Wettkämpfe für sie auch Ungewissheit, ob ich es schadlos übersehe, denn ein kleines, aber vorhandenes Risiko, dass ich einen Unfall habe, bleibt bestehen. Vielen lieben Dank für deine Unterstützung!!!

Die Truppe vor dem Start
Kurz vor dem Start

Kurz nach dem Startschuss
Endlich geht es los!

Die ersten 5 km von Labin nach Rabac trete ich gehörig auf die Bremse, lass es ganz langsam angehen und ordne mich brav in der Schlange ein. Ich habe noch mehr als genug Zeit und die Cut-Off’s werden nicht mein Problem sein. Nach Rabac geht es sanft abwärts und wir kommen direkt an der Promenade des Ortes heraus und können den Blick auf das Meer genießen – ein Traum. Ich bin schon jetzt von der Strecke begeistert und bereue die Entscheidung, erneut nach Istrien zu fahren, nicht!

Der erste Blick aufs Meer an der Ostküste
Das Meer lockt

Um von dort nach Plomin Luka, einem etwas trist wirkenden Ort, mit einer langsam versandenden Bucht, bei Kilometer 15 zu gelangen müssen wir unseren ersten Anstieg bis auf 450 Meter bewältigen, bevor es auf einem grob geschottertem Weg rein in die Ortschaft geht. Im Downhill lass ich es rollen und arbeite mich langsam etwas vorwärts. Es fühlt sich richtig an und ich könnte Bäume ausreißen. Nur das es jetzt schon langsam dämmert, passt mir nicht. Ich würde so gerne das Meer vom nächsten Anstieg aus noch sehen…

steinige Hochfläche bei Plomin Luka
Karge Vegetation nach Plomin Luka

Nun beginnt der lange Aufstieg! Den Vojak bei 1401m, er gehört zum Učka Gebirge und markiert den höchsten Punkt Istriens, werden wir erst bei Kilometer 37 erreichen. Mit einer kleinen Unterbrechung werde ich also die nächsten Stunden aufwärts marschieren und in die Nacht hineinlaufen. So der Plan.

Noch vor der ersten Nacht
Kurz nach Plomin Luka im Anstieg

An einigen Ruinen vorbei arbeiten wir uns im ersten Zug etliche hundert Meter aufwärts und hier versuche ich mehr Druck zu machen. Zum letzten Mal in diesem Rennen sehe ich kurz das Meer bevor die Sonne endgültig keine Lichtstrahlen mehr zu uns schickt.

Sonnenuntergang im Gebirge mit Blick aufs Meer
Der letzte Blick aufs Meer

Die letzten Sonnenstrahlen
Traumhafter Sonnenuntergang!

Mit der schwindenden Sonne und der ansteigenden Höhe beginne ich immer mehr zu frieren und es hilft alles nichts mehr – Rucksack runter nehmen und das warme Oberteil auspacken. Wie ich das hasse! Die meisten Teilnehmer aus südlicheren Ländern packen sich richtig dick ein, worüber ich schmunzeln muss, schließlich kann man es auch übertreiben und dann verdammt schwitzen.
Unterwegs stoßen wir auf den ersten größeren VP zu dem auch die 100km Läufer aus einer anderen Richtung stoßen. Das Lagerfeuer in der nun vollständig angebrochenen Nacht ist eine klasse Idee! Warm und freundlich erscheint das Licht – und ich merke den langen Anstieg nun ein wenig.

Lagerfeuer am ersten VP
Der erste große VP ist erreicht

Frohen Mutes bisher so gut durchgekommen zu sein, halte ich mich dort nicht lange auf und marschiere weiter Richtung Gipfel. Relativ schnell schlägt das Wetter aber um: es wird deutlich windiger und das Thermometer fällt auf 2°C ab. Ich friere, will aber nicht noch einmal den Rucksack abnehmen, um Handschuhe herauszuholen – ein Fehler! Leicht zitternd versuche ich auf den flachen, dann aber sehr steinigen Abschnitten zu laufen, während der Gebirgsrücken immer schmaler wird. Die Wegmarkierungsfähnchen fallen zum Teil um und ich verliere den Anschluss zu den Vorderleuten: Prompt komme ich vom angedachten Weg ab und laufe im Dunkeln neben der Spur. Nun bin ich wieder hellwach, halte nach den kleinen Lichterpunkten im nächsten und finalen Anstieg zum Gipfel Ausschau und stapfe wieder auf dem richtigen Weg weiter. In Serpentinen geht es nun sehr steil hoch zum Vojak und jeder schaut bei dem Wind nur noch auf seine Füße und will den Kopf nicht mehr heben. Verdammt anstrengend ist das hier und ich hoffe auf ein baldiges Ende.

Radarstation auf dem Vojak
Eine hässliche Radarstation auf dem Gipfel

Und tatsächlich. Ich stehe im Schnee! Im April! In Istrien! Sommer, Sonne und Meer verbinde ich mit Istrien…
Leid tun mir nun die ganzen Streckenhelfer und Kontrolleure, welche mitten in der Nacht auf den Bergen ausharren müssen – ein Knochenjob, da laufe ich lieber. Der Downhill auf dem festen Schnee wird eine Rutschpartie, bei der ich hoffe nicht hinzufallen und allergrößte Mühe habe, auf den Beinen zu bleiben. Natürlich lassen nicht alle die Vernunft siegen und so knickt ein übermotivierter junger Franzose vor mir um und verdreht sich den Fuß. Er schreit furchtbar und kann auch nicht mehr aufstehen. Zum Glück sind seine 2 Freunde gleich zur Stelle und bleiben bei ihm. Es ist bitter und ich wünsche so etwas niemandem, aber dies war irgendwie vorherzusehen…
Im kleinen Ort Poklon passiere ich den VP nur kurz um mich zum nächsten VP bei km 49 aufzumachen, der bei nur noch 560HM liegt. Ein verdammt langer Downhill ist das und ich komme gut hinunter. Das allerdings die Stirnlampe die Batterien in einem solchen Tempo leersaugt, überrascht mich. Immer schwächer wird mein Lichtkegel und ich entschließe mich, an einem anderen Läufer dranzuhängen, um die Batterien unterwegs nicht wechseln zu müssen. Ein anderer Läufer bietet mir zwar liebenswürdiger Weise seine Hilfe an, ich lehne aber ab und will erst am VP den Wechsel durchführen. Ein gefährliches Unterfangen, allerdings laufen wir nun meist auf Schotterwegen. Hier brauche ich nicht viel zu sehen.
Die Versorgungsstelle befindet sich in einem hässlichen Betongebäude, wartet aber mit einem famosen Essen auf. Wer hier nichts findet, ist selbst schuld. Erstmals seit dem Start vor über 9 Stunden setzte ich mich auch hin und gönne mir eine kurze Rast. Wenigstens ist es hier unten wieder deutlich wärmer. Das hat Kraft gekostet…
Der Blick aufs Streckenprofil verrät mir, dass ich nun durch einen Naturpark muss, welcher ebenfalls in größerer Höhe liegt und vier längere Anstiege serviert. Bei km 79 und knapp unter 1000HM liegt der letzte Gipfel dieses Abschnitts. Noch kurz meiner Mareike schreiben, ob sie mit bitte noch Batterien besorgen kann und weiter geht es.
Viel wurzeliger, steiniger und mit mehr größeren Tritten geht es nun die nächsten Stunden vorwärts. Das ist noch einmal deutlich anstrengender als bisher, aber ich fühle mich besser, als erwartet. So arbeite ich mich über die ersten 2 Gipfel noch in der Dunkelheit, bewundere die Cut-Off Kontrolleure, welche in einem Zelt bei starkem Wind die ganze Nacht ausharren, und bekomme von meiner Umgebung nicht viel mit. Grundsätzlich steht die Frage im Raum, warum man Trailläufe in der Nacht veranstaltet. Es ist eine körperliche und noch viel mehr mentale Herausforderung, ja, aber von der traumhaften Landschaft erfahren die meisten Teilnehmer überhaupt nichts! Muss das wirklich sein?

Mitten in der ersten Nacht
Die Batterien der Stirnlampe versagen mehrfach…

Erst beim dritten Anstieg dämmert es langsam und mir eröffnet sich mit den morgendlichen Sonnenstrahlen eine karge, aber friedliche und bezaubernd schlichte Landschaft!

Sonnenaufgang am Berg
Eigentlich müsste ich mich hinsetzen und den Ausblick genießen

Den vierten im Bunde, den Žbevnica, erreichen wir nun wieder über breitere Schotterwege – und es wird warm. Ich will nun aber keine Zeit verlieren und in den Downhill nach Buzet zu meiner Frau und dem größten VP des Rennens einsteigen. Also lasse ich das warme Oberteil an und lege die letzten Meter zum Plateau zurück. Eine Streckenpostin (gibt es die weibliche Form von Streckenposten überhaupt?) fragt mich höflich, ob alles in Ordnung sei. Verdutzt bejahe ich. Sehe ich so fertig aus? Ich bin leicht geschlaucht, fühle mich aber noch immer ganz gut und habe keinerlei Probleme…
10km und 900Hm abwärts trennen mich nun von Buzet, dem wichtigsten Ort auf der Strecke, mit Kleiderdepot, Schlafmöglichkeiten etc. Dort wird auf jeden Fall Mareike auf mich warten.
Mit diesem Wissen gehe ich in den Downhill – und der hat es in sich. In der oberen Hälfte schmal, steil abfallend, wurzelig; weiter unten steil und gut ausgebaut. Ich lass es krachen, renne abwärts, springe über Hindernisse, bin viel zu schnell unterwegs und scheiße auf die Vorsicht. Es macht Laune, ich bin stolz auf mich, freue mich auf meine Frau, fühle mich gut und will nicht kontrolliert laufen. Rausch an einem kleinen VP vorbei und schlage, eher in der Größenordnung von Stunden, viel früher als geplant dort ein. Ich fühle mich lebendig!!!

Kurz vor Buzet an einer aufgegebenen Eisenbahnstrecke
Wenige Kilometer vor Buzet

Die letzten Meter zum VP
Über die Wiese rein in die VP-Halle

Nun werde ich verwöhnt!!! Andys Freundin Christine besorgt mir warmes Essen, während Mareike mir trockene Klamotten bereit legt. Ihr seid spitze! Ich wechsle Shirt, Socken und packe mir ein frisches warmes Oberteil für die zweite Nacht ein, bevor ich mich aufs Essen stürze. Eine gute Viertelstunde verbringe ich hier, erhalte neue Batterien (Christine ist noch schnell einkaufen gefahren) und erfahre, dass Andy erst vor einer Stunde hier durch ist.
Hum bei Kilometer 100 mit einem leichten aber stetig feinen Aufstieg ist nun das nächste Etappenziel. Ich verabschiede mich von allen, wissend, dass ich die Mädels erst in der Nacht oder am nächsten Morgen wieder zu sehen bekomme. Mit leichten Orientierungsschwierigkeiten (in Städten bin ich oft unsicherer, als in der freien Natur – und das trotz der sehr, sehr guten Markierung), verlasse ich Buzet und spüre schlagartig zum ersten Mal schwere Beine. Nur sehr langsam komme ich im Flachen ins Laufen hinein und mühe mich sehr träge vorwärts.

Zwischen Buzet und Hum
Erstmal geht es immer am Kanal entlang

Nach kurzer Zeit geht es nur noch leicht, aber stetig auf steinigen Wegen aufwärts. Laufen ist mir jetzt zu viel und ich marschiere so gut es geht. Es zieht sich mehr als gedacht. Zwei Bachdurchquerungen sorgen für Abwechslung und ein wenig Spieltrieb. Lieber über die schiefen Steine balancieren und hoffen trockene Füße zu behalten oder auf sicheren Füßen mitten durch das Wasser waten? Na Logo: mitten durch ist die Devise, außerdem kann die Abkühlung nicht schaden (die Spaziergänger schauen trotzdem etwas befremdet)

Mitten im Bach
Erfrischend

Nach ein paar Kilometern wechseln wir auf eine kleine Zufahrtsstraße, die uns weiter nach Hum bringt. Die Läuferin vor mir befindet sich immer im gleichen Abstand zu mir, wird nicht schneller, wird nicht langsamer, als auch ich unterwegs bin. Bilde ich mir das ein? Hum wirbt damit, die kleinste Stadt der Welt zu sein. Wahrscheinlich leben nur noch wenige Dutzend Menschen dort – der restliche Ort ist halb zerfallen. In einem der alten Häuser ist der VP platziert und ich sehe sehr viele Läufer dort pausieren und sitzen. Mir ist es innen zu eng und ich setze mich kurz mit meinem Becher draußen auf ein Mäuerchen und schlürfe meine Cola.
Als nächsten Punkt setze ich mir den VP an der Trinkwassertalsperre Butoniga Jezera – etwa bei km 117.
Langsam kommt das Laufgefühl wieder und ich rolle von Hum abwärts, den Gegenanstieg nehme ich zügig marschierend und dann stehen wir oberhalb des Ortes in der Nähe des Zwischenziels. Allerdings neigen die Muskeln im sehr steilen Downhill auf der Straße und anschließend über sehr große Steine nun zum krampfen, weshalb ich die Bremse reinhaue und ganz vorsichtig abwärts laufe oder gehe. Jetzt nur nichts kaputt machen und das Ziel gefährden.
Die Hitze schlägt jetzt auch zu und ich bin froh, Salztabletten dabei zu haben. Vor allem weil der Weg zum See sich doch viel mehr zieht, als erhofft und es praktisch keinen Schatten gibt.

Blick auf den Stausee
Da liegt die sehnsüchtig erwartete Trinkwassertalsperre

Er taucht auf! Ich bin unglaublich erleichtert, als ich auf die Dammkrone abbiege und ruhig zum VP auf der anderen Seite laufe, wo alle Läufer liebevoll empfangen werden. Mir reicht man eine warme Brühe und ich setze mich erstmal hin und esse gemütlich und unterhalte mich mit einer Engländerin, welche in Deutschland arbeitet. Gespräche lassen sich in diesem Rennen immer leicht anfangen und führen; es ist weniger ein Rennen gegen andere, sondern vielmehr ein Kampf gegen sich selbst – und dies führt zu einem entspannten Umgang mit seinen Mitläufern und -läuferinnen. Das liebe ich an Ultras!
Frohen Mutes laufe ich wieder an und tatsächlich geht es wieder flüssiger. Ein ganzes Stück weit geht es praktisch flach an einem Kanal entlang Richtung Motovun – einer traumhaft gelegenen Stadt auf einem spitzen Hügel, um den sich die Stadt wie bei einem Schneckenhaus spiralförmig nach oben schraubt. Wahrscheinlich einer der bekanntesten Anblicke ganz Istriens! Jedoch nehmen wir nicht den direkten Weg, sondern laufen erst auf den gegenüberliegenden Hügel (der noch höher ist) hinauf. Jetzt muss ich beißen, aber der Kopf funktioniert gut. Ich rede mit mir innerlich und sage mir immer vor: linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß… nicht stehen bleiben, immer bewegen
Und es funktioniert! In einem Zug komme ich oben an und sehe Motovun aus einer neuen Perspektive! Nun schnell Mareike anrufen, ihr den Zwischenstand durchgeben, mein warmes Oberteil vorsorglich anziehen, Stirnlampe noch eingepackt lassen und darauf hoffen, dass ich es noch in die Stadt schaffe, bevor die Sonne nun ganz untergegangen ist. Ja, es ist schon wieder Abend und der Samstag ist irgendwie im Flug vergangen und ich habe es nicht gemerkt.

Sonnenuntergang kurz vor Motovun
Seit über 24 Stunden nun schon unterwegs

Der Weg zurück ins breite Tal führt über einfache Weg und bereitet keine Probleme – wie auch der Aufstieg nach Motovun nicht, durch welches wir hindurch müssen, um zum VP zu gelangen. Vorbei an Restaurants, an Anfeuerungen, an einem kleinen Mädchen, dass mir dort einen Kecks reicht, der verdammt lecker schmeckt und wieder ein Stück im Ort hinunter in die Dunkelheit. Jetzt ist die Nacht hereingebrochen und ich krame nur schnell meine Stirnlampe raus, warte kurz, um einen Mitläufer zu finden und breche so schnell wie möglich wieder auf. KM 129 liegt hinter mir. Nun habe ich Glück, denn ich stoße auf einen Serben und einen Bosnier, die befreundet sind und schon ganz schön zu kämpfen haben. Ich schließe mich an und profitiere im welligen und nun furchtbar anstrengendem Gelände auf dem Weg nach Oprtalj, 136km, von ihren Gesprächen, wir unterhalten uns über Frauen, den Sport, Politik und über was weiß ich noch. Dort angekommen packen sich beide schon in warme Klamotten, ich verzichte aber noch darauf, weil ich nicht glaube, dass es noch so kalt wird, wie in der ersten Nacht. Einziger Haken, sie halten sich nach meinem Geschmack zu lange am VP auf, jedoch will ich nicht alleine unterwegs sein, weil sich das Teilnehmerfeld schon furchtbar zerrissen hat und kaum noch einer zu sehen ist.

Grožnjan bei km 148 wird nun angepeilt und wir Drei wollen diesen Weg zusammen bestreiten. Dort hin passieren wir immer wieder den alten Bahnverlauf der Parenzana, nur um dann auf einem kleinen Pfad davon wieder Auf- und Abzusteigen. Eigentlich alles nicht schlimm, aber die vergangenen Stunden schlagen durch und wir bewegen uns nur noch sehr langsam vorwärts. Dazu kommt, dass wir immer mal wieder an Häusern oder winzigsten Orten vorbeikommen und wir nicht mehr wissen, wo unser Ziel liegt, wie weit es ist und was wir schon zurückgelegt haben. Für den Kopf ganz hart. Die Jungs fangen an zu schwächeln und mir ist das Tempo im Flachen zu langsam, traue mich aber nicht, mich abzusetzen. Dazu kommt, dass ich nun immer stärker friere. Der Kreislauf klappt anscheinend zusammen und fährt hinunter. Und dann biegen wir ums Eck einer Mauer und stehen vor Grožnjan. Geschafft! Das war härter und langsamer als erwartet… Ich packe Handschuhe, Mütze, Regenjacke, lange Hose (ich habe nie gedacht, dass ich die brauche und habe keine langen Socken dabei, die eine Kältebrücke verhindern) aus und ziehe alles an! Die kalten Finger machen dies nicht leichter, aber es muss klappen. Der Bosnier überlegt sich hier zu anderen auf Feldbetten in einem benachbarten Haus zu legen und kurz zu schlafen. Ich will aber weiter und nach einer kurzen Bedenkzeit brechen wir zu dritt doch wieder auf – wofür ich dankbar bin.
Der letzte Cut-Off ist in Buje bei 156km und wir wissen, dass wenn wir diesen Ort erreichen, es auch bis nach Umag schaffen werden. Nun ist jedoch schon 1 Uhr Nachts, seit 32 Stunden läuft das Rennen und ich werde so unglaublich müde. Ich beginne zu halluzinieren, sehe Gesichter in den Büschen, stelle mich auf die Seite um sie vorbeizulassen und nehme von meiner Umgebung nichts mehr war. Ich weiß nicht mehr ob es rauf oder runter geht, wie der Untergrund beschaffen ist und so weiter. Die guten drei Stunden nach Buje kämpfe ich mit meinem Körper, welcher aufgeben möchte. Mein Wille ist aber ungebrochen und ich lass mir meinen Zieleinlauf, meine glückliche Ankunft bei Mareike nicht nehmen. Komme was wolle! Buje selber nähern wir uns ganz unspektakulär aus einer unscheinbaren Richtung und stapfen durch die leere Stadt in einen Innenhof eines Hauses. Dort präsentiert sich uns ein reichgedeckter Tisch. Jeder von uns schnappt sich einen Stuhl und setzt sich direkt davor. Andere Läufer sind schon seit geraumer Zeit nicht mehr dagewesen und kommen auch nicht mehr, so lange wir uns dort aufhalten. Die Mädchen dort füllen uns freundlicherweise die Flaschen auf und sind trotz der späten und langweiligen Stunde noch immer guter Laune. Mareike gebe ich per Handy meinen Standort durch, damit sie mich im Ziel empfangen kann. Wussten wir vor einigen Stunden schon, dass wir es schaffen, so spüren wir es nun auch. Selbst wenn wir nun rückwärts nach Umag gehen müssten, würden wir unser Ziel erreichen. Wir lassen uns Zeit.

Nun geht es nur noch sanft abwärts Richtung Umag. Es sind zwar noch einige Kilometer, aber der Tag wird bald anbrechen. Wortlos marschieren wir weiter, laufen fast nicht mehr. Mit Sonnenaufgang ramme ich meine Stöcke in den Boden und laufe los (wahrscheinlich mit einem 7er Schnitt), ich verabschiede mich aus irgendeinem Grund nicht, keiner ruft mir nach und ich sehe Beide auch nie mehr wieder. An ausgetrockneten Kanälen und Wiesen entlang arbeite ich mich vorwärts, laufe wieder. Bis ich die Orientierung verliere… Liegt Umag nicht da? Oder dort? Bin ich nun aus dieser Richtung oder dieser gekommen? Ich krame nach meinem Handy, suche einen anderen Läufer und sehe trotz freiem Blick für einige Minuten niemanden. Ah da kommt einer ums Eck. Ich bin beruhigt (ich hatte den Track eigentlich auf der Uhr und hätte ihn nur starten müssen…), der Kopf spielt nur verrückt. Ich laufe wieder an, werde schneller, sehe nun Umag und höre das Ziel. Jetzt überhole ich, wir laufen einen Bogen nach Umag rein, ich gebe nicht auf und sehe das Ziel. Weiterlaufen ist angesagt. Davorne ist die Musik und eine Kreuzung, wo geht es lang? Ich sehe keine Markierung!!! Mareike ruft mir zu und leitet mich.

Zieleinlauf in Umag
ZIEL

Nachgang

Kurz nach 8 Uhr bin ich angekommen. Langsam und unglaublich stolz schlurfen wir zum Auto. Nur ich friere wieder, vor allem als wir am Hotel angekommen sind. Schüttelfrost sucht mich Heim und ich zittere mich dreckig, stinkend und vermutlich komisch aussehend durch die Hotellobby an den Frühstücksgästen und dem Personal vorbei Richtung Zimmer. Hunger habe ich nun wie ein Bär, weshalb wir nach dem Duschen noch einmal zum Essen hinunter in den Speisesaal gehen und ich ein paar Bissen zu mir nehme – bevor ich fast auf der Tischplatte einschlafe. Hat keinen Sinn, ich muss ins Bett. Bis zum frühen Nachmittag schlafe ich mehr schlecht als recht durch. Der Biorhythmus ist durcheinander. Nun will ich mir etwas gönnen und zusammen mit Andy und Christine tingeln wir die nächsten Stunden von der Hotelterrasse in eine Bar in der Stadt, zurück ins Hotel zum Abendessen und dann an die Cocktailbar. Nicht gesund, aber uns nun auch egal. Gegen 21 Uhr erlöst mich der Sandmann nun endgültig mit fester Hand.

Mareike und ich am Sonntag Nachmittag

Euer Thorsten

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4 Kommentare

  1. […] Sonnenschein beim Start und eine gut gelaunte Truppe. Was will man bei einem solchen Gruppenlauf besseres?Vielleicht eine bessere Form bzw. die Möglichkeit schneller laufen zu können…Aber, aber, wir wollen nicht jammern und uns beschweren – die Form könnte schlechter sein und es bleibt noch Zeit bis zu den 100 Miles of Istria. […]

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