Von der Idee bis zum Entschluss
Zu Fuß über die Alpen. Eine ganze Woche zusammen mit einem
Teampartner, ohne gemeinsame Trainingseinheiten, mit einem Fitnesszustand und
einer emotionalen Verfassung, die sich aus der Ferne nur schwer einschätzen
lassen. Streckenlängen und Höhenmeterangaben, die, milde ausgedrückt,
verunsichern. Unwägbarkeiten des Wetters im alpinen Umfeld, die jeden geplanten
Wettbewerb platzen lassen können und noch viele weitere Punkte, die
Fragezeichen hinterlassen.
Wieso kommen dann doch jedes Jahr rund 300 Teams auf die Idee, das wohl
bekannteste Etappenrennen des Laufsports auf sich zu nehmen? Dies war mir
Anfang 2016 noch nicht klar und ich hätte auf absehbare Zeit auch nicht mit dem
Gedanken gespielt, eine Veranstaltung dieses Kalibers ins Auge zu fassen. Zu
groß und unsicher schien mir ein solches Unterfangen, aber wofür hat man sonst
liebenswürdige, laufverrückte Freunde?
März 2016 suchte mein späterer Teampartner Andy nach einer
plötzlichen Absage seines gedachten Mitstreiters einen neuen Läufer für dieses Projekt
– und dachte an mich. Ohne lange Umschweife unterbreitete er mir den Vorschlag
und löste damit Erstaunen aus. Warum ich? Angeblich laufe ich schon sehr lange im
Allgemeinen und sehr lange auch Marathon und Ultras und neuerdings auch
Trailveranstaltungen. „Ob das aber reicht?“, schoss es mir durch den Kopf. Noch
sehr skeptisch bat ich um ein klein wenig Bedenkzeit und startete umgehend die
Recherche zum Projekt TAR 2016; schließlich war mein Interesse sofort geweckt, jedoch
agiere ich in diesem Bereich eher vorsichtig und ohne große Sprünge. Also ran
an den Computer und die Veranstalterhomepage geöffnet, um zu Beginn die
Eckdaten in Erfahrung zu bringen: 7 Etappen, kein Ruhetag, 247 km, 14900
Höhenmeter im Aufstieg und 15000 im Abstieg. Kurz den Taschenrechner zur Hand
genommen und die Tagesdurchschnitte ausgerechnet, um festzustellen: das ist eine
Menge. Erster Zweifel machte sich breit, aber so schnell wird nicht aufgegeben;
also weiter zu den Kosten, nur um die nächste Ernüchterung zu erfahren: Startgebühr
pro Person 750 €, 5 von 8 Übernachtungen im Camp 90 €, Bustransfer vom Zielort
Brixen zurück nach Garmisch 55 € und drei Übernachtungen, die noch gar nicht
eingerechnet waren (Am Ende kostet ein solches Unterfangen mit allen kleinen
Kostenpunkten locker 1200 € – ohne die verschlissene oder noch zu kaufende
Ausrüstung…). Damit war ich auf dem Boden der Wirklichkeit angekommen. Entscheidung
verschoben und am nächsten Tag einige Reportagen zu früheren Austragungen gelesen
– und da war sie wieder, die Neugier am Abenteuer im Kleinen. Heroisches Gerede
in vielen Berichten stufte ich als Läuferübertreibung ab,
Veranstalterformulierungen von einem der letzten großen Abenteuer als
Marketingsprache, aber trotzdem zeigte dies alles seine Wirkung. Was nun tun?
Mir war klar, dass dies praktisch mein restlicher Jahresurlaub sein würde und
zusätzlich finanziell kein weiterer großer Urlaub in diesem Jahr möglich wäre, weshalb
es notwendig wurde, ein solches Thema vorsichtig zu Hause anzuschneiden.
Zu meiner völligen Verblüffung war dieses Thema aber kein Thema. Sie war davon
überzeugt, dass ich eine realistische Chance habe, dies zu schaffen und wusste,
dass ich nicht viele Gelegenheiten bekommen werde, mit einem Freund die Alpen
zu queren (die meisten Teams fanden sich über Foren, Teampartnerbörsen oder
ähnlichen Plattformen); ohne lange zu überlegen, erhielt ich ihre Unterstützung
und ihren Segen für das Projekt. Dafür bin ich noch heute dankbar!
Der lange Weg nach Garmisch
Jetzt gab es für mich kein Halten mehr. Ich sagte Andy zu
und verabredete mich noch im selben Zuge für einen kleinen aber feinen
Ultratrail in der Hersbrucker Schweiz im selben Monat (der NAFPUT –
NonAidedFrankenalbPanoramawegUltratrail), um diesen gemeinsam mit ihm zu
bewältigen und unterwegs meine gefühlt eintausend Fragen loszuwerden.
Wie aber nun das weitere Training strukturieren? Die langen
Vorbereitungswettkämpfe, welche ich aus dem Training laufen wollte, standen
schon länger fest und fungierten auch als ideale Ergänzung zum normalen
Training: März NAFPUT, April 100 Miles of Istria („nur“ die 69 km), Mai UTLW
und Juni 100 km von Biel. Dies hört sich vielleicht nach sehr viel an,
allerdings ist die Vorbereitung von sehr großen Wettkämpfen durch die Teilnahme
an etlichen kleinen ein in der Trailrunningszene häufig praktizierter Weg –
eigentlich sind die meisten Trailrunner ausgesprochene Vielstarter, die am liebsten
das ganze Jahr über von einer Veranstaltung zur anderen ziehen würden, wenn sie
nur könnten, wie sie wollten. Eine Randnotiz ist die Ausgangslage für Andy, der
den Transalpine nur als Vorbereitungslauf für den zwei Wochen später
durchgeführten Goldsteig Ultrarace über 660 km sah…
Relativ schnell war klar, dass drei Bausteine beim TAR
besonders wichtig sind:
1) 7 Tage am Stück zu Laufen
2) Lange Strecke zu Laufen
3) Strecken mit vielen Höhenmetern auf schwierigem
Untergrund zu Laufen
Punkt Eins lässt sich leicht umsetzen: Einfach so oft wie
möglich laufen und wenn es nur eine kurze Distanz ist. So konnte ich auch an 6
Tagen die Woche meine Laufschuhe schnüren und Kilometer sammeln und den Körper
an die tägliche Belastung gewöhnen. Punkt Zwei war auch noch gut machbar und
mir schon von früher sehr gut vertraut. Meistens plante ich mit 30 bis 35 km
für den langen Lauf, der bei Fehleinschätzungen auch schon etwas länger werden
konnte. Dies ist in solchen Situationen gleichzeitig auch ein gutes Kopftraining und
lässt einen gelassener werden. Punkt Drei war schon deutlich schwieriger zu
meistern, weil wir in der Region nicht viele Möglichkeiten dieser Art haben.
Letztendlich habe ich Punkt zwei und drei in der Form kombiniert, dass ich
versucht habe ein Mal in der Woche einen langen Lauf im Gelände in der
Fränkischen- oder Hersbrucker Schweiz durchzuführen.
Die eine Woche in den Alpen
Zusammen mit meinem Arbeitskollegen Wolfgang fuhren wir gemeinsam Richtung Garmisch. Er würde nicht mit mir, aber ebenfalls den TAR laufen und finishen. Wie für meinen Partner Andy, so war auch für Wolfgang der TAR ein Vorbereitungslauf auf den Goldsteig… (Verrückte findet man überall 😉 Schon auf der Fahrt gen Süden war ich unglaublich hibbelig und aufgeregt, weil es so viele Fragezeichen für mich gab, die noch auf eine Auflösung warteten – erst während der Woche lernte ich langsam aber stetig gelassener zu werden. Probleme kommen, ganz gewiss und unausweichlich. Wenn man dies weiß und annimmt, dann können Lösungen viel leichter gesucht werden und nicht jede Kleinigkeit stellt den Untergang da! Anreisetag war schon der Samstag, damit der allgemeine Check-In erfolgen kann und die notwendige Tasche gepackt wird. Denn der Veranstalter hat für jeden Teilnehmer genau die gleiche, knall orangene Reisetasche vorgesehen, in die alles passen muss, was man für diese eine Woche benötigt (inklusive Isomatte, Schlafsack und Kopfkissen für das Camp). Zum Glück hatte ich vorher schon daheim an einer Tasche aus dem Vorjahr probieren und experimentieren können – nur um mir dann noch kleinere Ausrüstung für das Camp zu besorgen. Unumgänglich ist, ein zweites Paar Laufschuhe dabei zu haben und für verschiedene Wettersituationen gerüstet zu sein, was zur Folge hat, dass man praktisch keine „zivile“ Bekleidung mehr einstecken kann. Nach einer Etappe zieht man die frische Unterwäsche und Shirt der morgigen Etappe an und trägt diese am Abend schon beim Briefing. Kurze Hosen kann man 3-4 Tage gut tragen (lange genauso) und für die kühlen Abende noch ein Trainingsanzug.

Läufer, die jede Nacht in einem Hotel oder einer Pension
schlafen, haben natürlich nicht diese Probleme, denn sie sparen sich die
Schlafausrüstung und das Duschtusch. Aber: Ihnen entgeht auch ein wunderbarer
Teil der Veranstaltung. Das Camp bietet eine erstklassige Möglichkeit mit den
verschiedensten Menschen aus allen Teilen der Welt einfach und unkompliziert in
Kontakt zu treten, zu quatschen, fachsimpeln und zu lachen! Das allein ist Gold
wert! (und wer nach diesen Etappen nachts nicht einschlafen kann, war definitiv
zu langsam unterwegs 😉 Der andere Grund, welcher für das Camp spricht, ist der
organisatorische Ablauf. Der Veranstalter macht sich bei fast jeder Etappe die
Mühe, in allen Unterkünften die Taschen morgens abzuholen und fährt sie immer
zum nächsten Etappenort in die jeweilige Unterkunft, jedoch sind diese
Unterkünfte nicht immer räumlich und zeitlich optimal zu den
Abendveranstaltungen platziert, wohingegen der Abstand zum Camp und seinen
Abläufen berücksichtigt werden.
Abends ging es dann zur Eröffnungsfeier, welche mit großen
Aufwand betrieben wurde: über den Einzug der Nationen mit Flaggen aller
teilnehmenden Sportler, bis zum Streckenbriefing im Allgemeinen und speziell
für die 1. Etappe, Abendessen und ersten Kontakten – nur meine Nervosität
wollte sich nicht legen; wie viel Zeit habe ich in der Früh zum packen, wie gut
kann ich in einer Massenunterkunft schlafen, wie bewältige ich die Etappen, wie
funktioniert die Zusammenarbeit mit Andy, wie technisch wird das Gelände und
und und… Natürlich war die erste Nacht nicht von erholsamen Schlaf
gekennzeichnet.
1. Etappe: Garmisch Partenkirchen nach Lermoos
- Startzeit: 10:00
- Gesamt Kilometer: 36,5 km
- Gesamt Höhenmeter im Aufstieg: 2088 Hm
- Gesamt Höhenmeter im Abstieg: 1791 Hm
Deutlich vor dem
Wecker werde ich wach und kann nicht mehr einschlafen; also ran ans Packen der
Reisetasche und des Rucksackes: Wasserdichte Jacke, wasserdichte Jose, warmes
Oberteil, lange Tight, wasserdichte Handschuhe, Mütze, Wasser, Trinkbecher,
Verpflegung (immer schön alles mit der Startnummer beschriften, denn dies wird
kontrolliert, um eine Mülldeponie in den Bergen zu unterbinden, die
unweigerlich entstehen würde, wenn alle Teilnehmer ihre Riegel- oder Gelverpackungen
einfach dort wegwerfen würden), Erste-Hilfe-Set und die Roadmap. Selbst unter
Verwendung leichtester Gegenstände kommt trotzdem ein nicht unerhebliches Rucksackgewicht
zusammen, was jedoch nur schwer zu vermeiden ist, da der Veranstalter – völlig
zu Recht – eine Pflichtausrüstung zum Schutz der Läufer vorschreibt. Nach einem
gefühlt zu kurzem Frühstück machen wir uns schon auf Richtung Start, nur um
viel zu früh dort zu sein. Macht nichts, dann gibt es halt doch noch einmal
Kaffee in einem benachbarten Café – ein Lebenselixier auf allen kommenden
Etappen.
Bei jeder Einreihung in den Startblock muss eine
Kontrollstelle passiert werden, bei der noch einmal der Rucksack überprüft und
das Team auf der Liste entsprechend abgehakt wird. Umfang und Genauigkeit
dieser Kontrollen stehen im umgekehrten Verhältnis zur Größe des Rucksackes;
umso kleiner, umso genauer wird geprüft. Manche unserer Kollegen würden am
liebsten alles komplett weglassen, um leichter laufen zu können, was bei mir
nur Stirnrunzeln auslöst, denn in den Bergen kann ein Wetterumschwung schnell
heranrücken – zu schnell, um abzusteigen.
Dann der ersehnte erste Startschuss und los geht es! Alle
Anspannungen fallen in diesem Moment von einem und ich bin nur noch auf das
Laufen fokussiert. Jetzt gibt es nur noch uns und die Strecke und all die
kleinen und großen Unpässlichkeiten während solch langer Wettbewerbe. Nach
wenigen Kilometern stehen wir das erste Mal – vor einer verschlossenen
Bahnschranke: der Zug hat definitiv Vorfahrt, was angekündigt war, aber nicht
jedem Sportler schmeckt.
Nur nicht aus der Ruhe bringen lassen… Über die Tröglhütte geht es relativ gut
und nicht zu steil hinauf, um dann in einem schnell zu laufenden Downhill zum
Eibsee alle Höhenmeter wieder zu vernichten. Alles sehr gut laufbar und
einfacher als gedacht, weshalb mir der ungestörte Blick aufs Zugspitzmassiv
möglich ist . Einfach wunderbar und gar nicht so schwer – bis wir vor der
Riffel-Skiabfahrt stehen und diese hochstapfen dürfen. Noch nie bin ich bei
einer Veranstaltung eine solch steile Passage gegangen und mir kommt sie
unendlich vor (erst in den nächsten Tage werde ich begreifen, dass dieser
Anstieg eigentlich kurz war und bei alpinen Wettbewerben noch ganz andere
Anstiege auf einen warten können!) So steil konnte ich nicht trainieren…. Kurz
danach passieren wir schon die Grenze zu Österreich, womit Deutschland schon
auf der ersten Etappe hinter uns liegt. Wie war der Werbespruch des
Veranstalters PlanB Event: 3 Länder, 2 Läufer, 1 Woche… Weiter über die Talstation
Ehrwahl der Zugspitzbahn läuft die Etappe relativ flach Richtung Lermoss in
Tirol aus. Für Andy natürlich die beste Gelegenheit richtig Fahrt aufzunehmen
und mich im Spurt Richtung Ziel zu treiben. Wow, ich bin schon nach der ersten
Etappe von dieser Veranstaltung begeistert, wahrscheinlich sogar zu euphorisch,
aber wenn man das erste Mal nach einem Lauf in den Bergen das „Zieldorf“ einer
TAR-Etappe erreicht, ist man völlig überrascht. Überall Stühle und Hocker, um
in einer ganz gemütlichen Atmosphäre alkoholfreies oder alkoholhaltiges Bier zu
trinken und zu quatschen. Dazu gibt es Zielverpflegung, Massagen etc. Ein
Rundum-Sorglospaket. An diesem Tag habe ich mir schon geschworen, nicht
aufzugeben und diese Geschichte bis zum Ende durchzuziehen – egal wie es kommt!
Nach einer Weile erheben wir uns aus unseren Stühlen und machen uns auf zur
Unterkunft in einer Pension, die wie in diesem Fall an drei von 8
Übernachtungen nicht im Camp möglich ist, weil es vor Ort keine Gegebenheiten gibt.
Das abendliche Programm besteht aus einer möglichst große Nahrungsaufnahme
(während dieser Woche entwickelt man einen Appetit, der kein Sättigungsgefühl
mehr kennt und einem immer das Gefühl gibt, nicht genug zu sich zu nehmen),
Bier aufzutreiben (was die Läufer durch die Bank in dieser Woche Bier trinken,
wäre den meisten anderen Sportlern, wie zum Beispiel Triathleten
unbegreiflich), die Siegerehrung der Etappenschnellsten zu verfolgen, das
Streckenbriefing aufzusaugen und die Bilder und das Video des Tages
anzuschauen. Eine Collage der Aufnahmen des Tages, hinterlegt mit pathetischer
Musik, die bei fast keinem die Wirkung einer Motivationsspritze verfehlt.
Gebannt sucht jeder sich in diesen Schnitzeln und freut sich über jeden
Bekannten, der gezeigt wird. Unbezahlbar dieses Gefühl, dass man rund um die
Uhr Teil einer großen Familie ist, die eine ganze Woche einen begleitet und
unterstützt. Im Laufe der folgenden Tage sehen wir auch die Art und Weiße, wie
diese Fotos und Videos zu Stande kommen: Entweder wird die ganze Ausrüstung
mitten ins Gelände geschleppt (das ist eine Höchstleistung!) oder auf einer
Motocross Maschine dorthin gebracht (die Fahrer dieser sind richtig verwegene
Kerle).
2. Etappe: Lermoos nach Imst
- Startzeit: 08:00
- Gesamt Kilometer: 32,8 km
- Gesamt Höhenmeter im Aufstieg: 1647 Hm
- Gesamt Höhenmeter im Abstieg: 1861 Hm
Die deutlich frühere
Startzeit löst bei Andy das Gefühl nach immer mehr Kaffee aus. Mir schwebt eher
die minimal verkürzte und in der Höhe gekappte Strecke im Kopf herum, die
notwendig wurde, weil schlechtes Wetter angekündigt ist. Auch heute sind die
Höhenmeter auf zwei große Anstiege verteilt und lassen mich zuversichtlich
sein. Dumm nur, wenn der erste Anstieg schon kurz nach dem Start erfolgt und
dann auch noch schmal ist. Der Rückstau ist vorprogrammiert und kann nur gemildert
werden, weil Andy dies schon vermutet hatte und nach dem Startsignal im Flachen
ein hohes Tempo einschlägt. Noch vor dem ersten VP mit Zeitmessmatte passieren
wir den höchsten Punkt des Tages, die Grubighütte, um dann in einem engen
Singletrail durchs Unterholz (dies ist vermutlich mehr ein Tierpfad, als ein
Weg für Menschen) zu rutschen und zu laufen und sich wieder zur VP 1 nach unten
zu schrauben. Was für ein genialer Weg, warum haben wir hier in der Region so
etwas nicht? Kilometerlange Singletrails der 1A-Variante! Am Fernpass bei VP1
ist jedoch die Überraschung groß, dass wir nur 15 min vor dem Cut-Off liegen
und noch ein großer Teil der Sportler hinter uns ist. Wie kann dies möglich
sein? Waren wir auf den vergangenen Kilometern zu langsam?
Mein Teampartner lässt keine Zeit zum Überlegen zu und stürmt mit mir auf einem
breiten Schotterweg weiter Richtung Tal, durch das Schloss Fernstein hindurch
zum nur wenige Kilometer entfernten VP2 bei Tegestal. Nun ist der Zeitpuffer
wieder im vernünftigen Rahmen und ich kann in aller Ruhe über die Verpflegung
herfallen – vor allem der Schokokuchen ist erste Sahne! Dazu noch Salami und
Käse und alles ist in Ordnung. Vom angekündigten Unwetter haben wir noch nichts
mitbekommen und danken Petrus für seine Nachsicht. VP3 liegt in 11 km Entfernung
und lässt uns über den Kohlstatt und Göfelesse in einem unbeschreiblichen
Panorama auf ca. 1500 Meter aufsteigen, um dann alles wieder abwärts nach Obtarrenz,
einem kleinen Ort vor Imst, zu sausen. Dieser Downhill ist schon wieder ein
Gedicht! Nach Imst wird dann gemütlich ausgerollt, denn diese Etappe war noch
besser als die Erste und die ganze Vorbereitung hat schon jetzt gelohnt. Hier
in dieser Bergwelt laufen zu dürfen ist einfach einmalig und sollte wie ein
Geschenk behandelt werden!
Dass wir in einer
erstklassigen Pension untergebracht sind und wir zur Begrüßung Schnaps erhalten
(Wiederrede zwecklos) rundet den restlichen Tag ab und lässt uns Abends
zufrieden und erschöpft ins Bett fallen.
3. Etappe: Imst nach Mandarfen im Pitztal
- Startzeit: 07:00
- Gesamt Kilometer: 47,9 km
- Gesamt Höhenmeter im Aufstieg: 3037 Hm
- Gesamt Höhenmeter im Abstieg: 2144 Hm
Die Königsetappe des TAR! Ein Ganzer Ultratrail mitten im
Rahmen dieser Veranstaltung. Das ringt mir Respekt ab, denn das Höhenprofil
zeigt viele verschiedene Anstiege und das heute zum ersten Mal auf überwiegend
Pfaden und nur wenigen Wegen oder gar Asphalt. Ich kann mir in der Früh noch
nicht richtig vorstellen, wie schwer sie zu laufen sind, bin aber vorsichtig.
Was wird Andy denken, wenn unser Leistungsunterschied offensichtlicher wird?
Definitiv zu früh müssen wir aufstehen und mit wenigen Worten am
Frühstückstisch sitzen und Kaffee schlürfen. Kurz werfe ich ein, dass wir heute
weniger Zeitdruck haben, weil der Renndirektor die Cut-Offs nach hinten
verschoben hat, nachdem gestern schon einige ausgeschieden waren und noch mehr
bei strenger Auslegung herausgefallen wären. Andy ist dies aber egal: Wir
müssen einfach so schnell sein, wie es ursprünglich vorgesehen war. Almosen
will er nicht und schon gar nicht will er auf der Strecke übernachten… Gut, dass
wir dies geklärt haben.
Also ziehen wir unser Gepäck heute zur Busstation (Plan B hat einen
Abholservice eingerichtet) und warten im Dunkeln an einer verlassenen Straße
auf unsere Mitfahrgelegenheit. 5 min nach der Zeit werden wir langsam
ungeduldig. 15 min nach der Zeit müssen wir eine Entscheidung treffen: Hoffen,
dass er noch kommt oder zu Fuß die 20 bis 30 Minuten zum Startgelände laufen
und die Taschen schleppen, um noch rechtzeitig dort zu sein. Wir entscheiden
uns sehr schnell für Variante B und betreiben fluchend unser Aufwärmprogramm.
Wie kann dem ansonsten so gut organisierten Veranstalter dies passieren? Wenn
wir zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätten, was heute noch alles schief gehen
wird…
Vor Ort treffen wir nur wortkarge und müde dreinblickende Läufer und einen
Wolfgang beim Tapern. Ob alles in Ordnung ist? Ich nehme mir vor, heute Abend
einmal vorsichtig nachzufragen.
Pünktlich starten wir unsere Reise und kommen zügig und gut Richtung VP1
vorwärts und nach den ersten Kilometern fällt auch die Müdigkeit im Kopf und in
den Beinen von mir ab und ich komme wieder in einen vernünftigen Rhythmus. Auf
guten Wegen steigen wir zum VP2 bei km 21 steil auf, um dann den wirklich
interessanten Teil der Etappe zu erreichen: den Almweg im Pitztal!
Im verblockten Gelände knapp unterhalb der Baumgrenze geht es direkt über die
Weideflächen der Kühe und mitten zwischen ihnen hindurch. Dabei führen die
Leitern über die Zäune den meisten von uns ihre mittlerweile schon
eingeschränkten motorischen Fähigkeiten vor Augen. Elegant ist etwas anderes.
Unglaublich ist auch, wie elegant, schnell und sicher sich Kühe in einem
Gelände bewegen können, durch welches die wenigsten von uns schneller als
gehend hindurchkommen. Bäche werden überquert, Wiesen und Wälder passiert um
nach mehr als 2 Stunden den VP3 zu erreichen. Unser Puffer ist dort nicht allzu
groß, lässt uns aber frohen Mutes weiterziehen. Nun steigen wir bis oberhalb
der Baumgrenze auf und ich erblicke eine mir fast unbekannte Landschaft.
Nackter Fels mit stellenweise Gras und Sträuchern, dazu die Gipfel in der
Umgebung und direkt am Hang führt unser Pfad entlang. Meistens nur 40 – 50 cm
breit und zur linken Seite sehr schräg nach unten abfallend (das Tal liegt ca.
400 – 500 Meter tiefer!). Einfach nur der Wahnsinn und dazu an einigen Stellen
Stahlseilsicherung und Tritte nur für einen Fuß + Steinplattenquerungen und
Bäche. Nur in diesem Gelände kann ich mich etwas von Andy absetzen, der mit
seiner Höhenangst ein wenig zu kämpfen hat. Ich beschließe, wenn ich die
Passagen laufend zurücklege einfach nur auf den Boden zu starren. Nach etwa 39
km reicht dies jedoch nicht mehr und mich legt es genau auf diesem Pfad der Länge
nach hin. Hektisch springe ich wieder auf, begutachte mich und werde mir dann
erst der Situation bewusst – ich hätte definitiv nicht viel weiter nach links
fallen dürfen. Andy schaut mich etwas besorgt an, aber ich deute nur auf die
Uhr, weil wir hier schon viel länger unterwegs sind, als geplant und ich Angst
vor dem Cut-Off habe. Hier in diesem Gelände zieht sich das Teilnehmerfeld auch
viel weiter auseinander, als an allen Tagen davor oder danach. Zusätzlich
merken wir, dass die angegebenen Distanzen nicht mit denen unserer Uhren übereinstimmen…
Nach fast drei Stunden und einem extrem steilen Downhill stehen wir am vierten
und letzten VP, bei dem wir erfahren, dass der Renndirektor den Cut-Off ganz
aufgehoben hat und jeder, der es bis hier schafft, auch den letzten flachen
Abschnitt bis nach Mandarfen weiterlaufen kann (angedacht war eine maximal Zeit
von 12 h – die letzten benötigten dann aber knapp 16 h). Wir liegen noch vor
dem ursprünglichen Cut-Off müssen uns aber trotzdem über die Fehleinschätzung
wundern. Meine Uhr zeigt mir im Ziel 51 km an, womit ich noch mit die kürzeste
Distanz hatte, weshalb es auch zu verschiedenen Beschwerden kommt und sich der
Renndirektor am Abend gezwungen sieht, eine Stellungnahme abzugeben. Er
verweist auf die technischen Gegebenheiten dieser Uhren, die vielen sehr engen
Serpentinen und, und, und… Glauben tut ihm das fast keiner.
Im Ziel der nächste Ärger. In Mandarfen gibt es ein Camp für uns, allerdings
ist dieses ein auf verschiedene Nachbarorte aufgeteiltes Schlafen in Pensionen.
Hierfür werden Busse benötigt die in der Menge nicht ausreichen, um die
frierenden (es wird langsam dunkel) Läufer dort hinzubringen. Dann heißt es
auch noch, dass die Abendveranstaltung im Restaurant auf dem Gletscher
stattfindet, eine eigentlich gute Idee, aber die Bahn hinauf eine letzte
Abfahrtszeit hat, welche mit einem vorherigen Besuch der Unterkunft, einer
Dusche und frischen Klamotten kollidiert! Nach heftigen Protesten fährt der
Busfahrer im Eiltempo durchs Tal in einen Nachbarort, wartet dort auf uns und
gibt uns 10 Minuten Zeit, damit pro Dusche drei Personen durchgeschleust werden
können. Die Bahn hoch erreichen wir und viele andere noch rechtzeitig (außer
die armen Mitstreiter, welche noch unterwegs sind und damit auch kein
Abendessen mehr bekommen…), allerdings hat das Programm schon angefangen. So
ein Sch… Im Schnelldurchgang stopfen wir alles Essbare in uns hinein, lauschen
den Ankündigungen für morgen und lassen uns entnervt wieder zurückfahren. Die
Pension selber ist eigentlich mehr eine ganz einfache Skihütte mit einem
Doppelbett pro Zimmer und zwei zusätzlichen Matratzen auf dem Boden. Wir
erwischen glücklicherweise das Bett und überlassen zwei jungen Polen den Boden.
Nachdem einer von Beiden nur sehr schwer auf die Matratze geplumpst ist, wir
frech lachen und uns direkt danach dafür auch entschuldigen, ist die Stimmung
gelockert und wir schwätzen noch ein wenig. Der Eine arbeitet in Norwegen, der
Andere in Berlin und beide Zelten an den Etappenorten ohne offizielles Camp. Zusammen
mit zwei älteren Isländerinnen, welche wir auf der Strecke kennengelernt
hatten, war das nun schon das zweite
sehr interessante Gespräch an diesem Tag. So kann es weitergehen!
4. Etappe: Mandarfen nach Sölden im Ötztal
- Startzeit: 09:00
- Gesamt Kilometer: 25,7 km
- Gesamt Höhenmeter im Aufstieg: 1887 Hm
- Gesamt Höhenmeter im Abstieg: 2214 Hm
So geht es nur nicht weiter. Obwohl die Nacht erholsam war, fühlen sich die Beine die ersten Kilometer wie Blei an. Gleich nach dem ersten Kilometer geht es auch steil hinauf zum Rifflsee. Aus lauter Angst vor den Wolken habe ich dummerweise auch noch die Regenjacke angezogen und der Schweiß läuft wortwörtlich aus dem Ärmel hinaus. Ich bin nach diesen 600 HM und nur 2,5 km schon richtig angenockt. Eigentlich habe ich heute auf eine erholsame kurze Etappe gehofft und fühle mich nun eines besseren belehrt, wie soll das heute weitergehen? Vom wunderbar in einer Senke gelegenen See, welcher mit kahlen Bergen umrahmt ist und unglaublich grün schimmert, geht es durch die Wanderer schlängelnd um diesen herum und über die Alm wieder gut 550 HM abwärts zum VP1.
Kraft tanken, ausreichend essen und sich über eine zufällige Begegnung mit
einer befreundeten Familie aus Nürnberg freuen, lautet die Devise. Denn was
dann folgt, lässt mich am Erfolg dieses Abenteuers zweifeln. 1200 Höhenmeter
führt am Stück der Pfad in Serpentinen durch das hochalpine Umfeld in eine
völlig vegetationsfreie Umgebung. Ich sehe nur noch die Steine direkt vor
meinen Füßen, versuche den Rucksack des Vordermanns nicht aus den Augen zu
verlieren und muss Andy ziehen lassen. Er ruft mir noch zu, dass jeder Anstieg
irgendwann aufhört, aber in diesem Moment kommt er mir unendlich vor. Dazu
immer wieder kleine natürliche Stufen, Steinplatten, die überquert werden
müssen und kein Ziel vor Augen. Wir passieren die Braunschweiger Hütte. Bis
hier benötige ich ewig und viel zu lange. Oben angekommen ruft mir einer zu:
FinishLine, das ist ja ein Nürnberger. Wer er ist und wie er aussieht, weiß ich
auch später nicht, denn ich hebe nicht einmal den Kopf, um ihn anzuschauen.
Erst am Schild „Highest Point of the Race“ bei 3000 Meter lächle ich Andy, der
gewartet hat, an und wir schießen ein Erinnerungsfoto. Für heute habe ich es
geschafft, nun folgt der Abstieg über den Gletscher. Den einzigen Gletscher in
den Alpen, welchen man ohne besondere Ausrüstung queren kann. Die Faszination
und Freude ist so groß, dass ich beginne kleine Schneebälle zu formen und Andy
damit zu bewerfen – bis das Donnerwetter der Bergwacht einsetzt und ich ermahnt
werde, meine Hände am extra angebrachten Seil zu halten. Wie ein kleiner Junge
auf dem Schulhof, der bei einer Schneeballschlacht erwischt wird, fühle ich
mich – und grinse trotzdem. Nur leider nicht lange: Andy drängt nach diesem
Abschnitt auf ein sehr hohes Tempo, weil wir bis zum Erreichen der Ötztaler
Gletscherstraße und dem zweiten und letzten Cut-Off fast keine Zeit mehr haben.
Mit anderen Läufern in der Gruppe arbeiten wir uns im halsbrecherischen Tempo
bergabwärts, um nur mit 5 Minuten Puffer anzukommen. Verdammt, ist das knapp
gewesen; zumindest bis wir erfahren, dass das Zeitlimit um mindestens eine
Stunde erweitert wurde. Die Ausstiegsquote gestern war so hoch, dass der
Veranstalter heute nicht noch mehr verlieren möchte (am Ende der Woche sind es
nur noch 2/3 der Teams). Bis nach Sölden haben wir nun wieder viel, viel mehr
Zeit als benötigt und können ganz entspannt (sofern Andy das Wort kennt) nur
noch abwärts laufen. Die angenommenen Geschwindigkeiten im Auf- und Abstieg und
die daraus errechneten Cut-Offs sind einfach nicht stimmig und stellen für
viele eine echte Herausforderung da.
Sölden glänzt dafür mit einer wunderschönen Stadt, einem unglaublich großen und
gewaltigen Buffet am Abend, einem perfekten Camp und erstklassiger
Organisation. Einfach nur Top und der beste Etappenort!
5. Etappe: Sölden nach St. Leonhard in Passeier
- Startzeit: 08:00
- Gesamt Kilometer: 33,3 km
- Gesamt Höhenmeter im Aufstieg: 1453 Hm
- Gesamt Höhenmeter im Abstieg: 2111 Hm
Das ist die Speedetappe und die leichteste von Allen! Auf
Pfaden geht es wieder hinauf ins hochalpine Umfeld zum Timmelsjoch bei knapp
2500 Meter, aber diese verlaufen größtenteils nicht so steil, bieten nicht die
permanenten Stufen, die einem die Kraft aus den Oberschenkeln ziehen und werden
erst auf dem letzten Stück wirklich fordernd, denn dann erreichen wir einen
schmalen Stahlseil gesicherten Abschnitt, welcher durch Felsspalten unter Hilfe
der Hände bewältigt werden muss. Oben angekommen, bleiben wir stehen und
bewundern die Umgebung. In diesem Moment wird mir die karge und imposante
Schönheit dieser Landschaft richtig deutlich und ich bin dankbar für die Möglichkeit
an diesem Rennen, an dieser Woche Urlaub und auch Fortbildung in vielerlei
Hinsicht teilnehmen zu dürfen. Ein kleines Stück abwärts befindet sich auf
einem schmalen Grat der VP2 und ermöglicht Essen und Trinken mit Blick aufs
Passeiertal und damit Italien! Hier begegnen wir auch wieder Wolfgang und
seinem Partner und erfahren von seinen Knieproblemen, welche er sich nach einem
Sturz zugezogen hatte und das Tapering am Vortag nötig werden ließ. Ich wünsche
ihm viel Glück und lass ihn ziehen, weil ich genau weiß, dass ich im Downhill
auf technisch schwierigem Untergrund nicht der Schnellste bin – und dieser
Downhill vom Timmelsjoch nach Schönau hat es in sich. Eigentlich nicht zu steil
und damit ideal, aber mit vielen Steinen versehen und immer wieder kleinen
Stufen, die springend überwunden werden. Langsam spüre ich mein linkes Knie
wieder. Dies hatte mich schon im letzten Jahr für einige Wochen außer Verkehr
gesetzt, aber ich schiebe diese Erinnerung beiseite, bin lieber etwas
vorsichtiger und langsamer und freue mich, als ich sehe, dass wir die letzten
10 Kilometer auf erstklassigen immer nur leicht abfallenden Wegen ohne Unebenheiten
im gefühlt Höllentempo Richtung Ziel brettern können. Dies ist dem erst vor
wenigen Jahren angelegten Passeirschluchtweg zu verdanken, der die Schlucht für
Spaziergänger öffnet. Mit unter 1h für diesen Abschnitt, der noch einen VP
bereit hält, sind das die schnellsten 10 km der ganzen Woche. Was für ein
Gefühl, endlich wieder so laufen zu können! Die Etappe fühlt sich in allen
Belangen wie ein Geschenk an.
Wir sind natürlich sehr früh in St. Leonhard und genießen die liebliche
Landschaft Südtirols, den strahlenden Sonnenschein und vor allem den freien
Nachmittag, den wir schlafend in der Pension verbringen, um die Zeit bis zum
Abendessen zu verkürzen. Der allgegenwärtige Hunger…
6. Etappe: St. Leonhard in Passeier nach Sarnthein im Sarntal
- Startzeit: 08:00
- Gesamt Kilometer: 33,6 km
- Gesamt Höhenmeter im Aufstieg: 2440 Hm
- Gesamt Höhenmeter im Abstieg: 2153 Hm
Die heutige, vorletzte Etappe gleicht mehr einem Aufstieg auf eine Hochfläche mit einer kleinen, aber herausragenden Spitze in der Mitte, um gegen Ende wieder diese Ebene zu verlassen. Allerdings verheißen die Höhenmeterangaben auch einen beschwerlichen Weg. Im Kopf denke ich nur immer an den aktuellen Tag und die Herausforderung und nicht an das, was noch kommen mag, bin aber fest entschlossen, mir den Zieleinlauf in Brixen nicht mehr nehmen zu lassen. Dieser Vorsatz wird heute auf eine harte Probe gestellt!
Vom Start weg arbeiten wir uns ohne Umschweife über die verschiedensten Almen, über den VP1 hinaus immer weiter hinauf, um insgesamt 1500 HM am Stück zurücklegen. Der größte Teil führt durch ausgedehnte Nadelwälder auf Forstwegen, Wildwechselwegen und Wanderwegen immer weiter hinauf. Auf der Hochfläche angekommen, bewegen wir uns durch eine karge, nur mit Gräsern bewachsene alpine Landschaft, die nicht immer leicht zu laufen ist, weil oftmals Tritte und der eigentliche Weg gesucht werden müssen. Vermutlich bin ich hier spürbar länger gelaufen, als notwendig gewesen wäre. Bei bestem Sonnenschein immer im leichten Auf und Ab schlurfe ich Richtung VP2 bei der Tallner Alm. Andy bewegt sich nach meinem Empfinden völlig schwerelos durch dieses Gelände und aufwärts. Wie macht er das nur… Schon dort, bei km 14, bin ich völlig fertig und würde für heute am liebsten aufhören. Wahrscheinlich sehe ich so fertig aus, dass deshalb mich ein netter und fürsorglicher Herr der Bergwacht anspricht und sich nach meinem Befinden erkundigt und mich auf die noch anstehende Herausforderung hinweist. Ich wische seine Bedenken weg, esse ausgiebig, trinke viel, fülle alle Flaschen auf und bewege mich mehr automatisch als willentlich Richtung Obere Scharte, ein noch einmal 600 Meter höher liegender Übergang ins gewünschte Tal. Dieser Anstieg verlangt alles ab und wird gegen Ende mit Unterstützung der Hände bewältigt, indem Stahlseile benutzt werden, sich durch Scharten gezwängt wird und man sich für die großen Stufen an der Wand Halt sucht. Unglaublich! Angekommen bei der Oberen Scharte (die heißt tatsächlich so) auf gut 2600 Meter eröffnet sich uns ein Panorama das für (fast) alles entschädigt. Ich habe das Gefühl ganz klein in dieser gewaltigen Landschaft zu stehen. Ein unglaublicher Gefühlsmix von Stolz, Zufriedenheit, Demut und Dankbarkeit steigt auf. Das erstklassige Wetter unterstützt diesen Moment noch. Leider können wir hier oben nicht lange verweilen, denn die weiteren 8 km bis zur nächstem VP verlaufen immer noch größtenteils auf gut 2200 Meter durch hochalpines Gelände über Geröll, Bergwiesen, Weiden, vorbei an Wanderern und immer im leichten Auf und Ab – eine Tortur für mein immer deutlich schmerzenderes Knie und die groß gewordene Erschöpfung. Selbst den malerisch gelegenen Gebirgssee Katzenberger lasse ich unbeachtet links liegen und versuche nur noch möglichst bald den VP zu erreichen.
Mit einem vernünftigen Puffer erreichen wir diesen doch noch irgendwann und ich weiß, dass wir es für heute geschafft haben. Die restlichen 9,5 km bewegen sich nur noch leicht bergab auf breiteren Wegen nach Sarnthein und dienen zum Ausrollen. Andy verzichtet meinetwegen heute auch auf einen „Schlussspurt“ zum Ziel und trottet ganz gemütlich mit mir über die Ziellinie.
Völlig erschöpft setze ich mich in den Schatten, trinke mein alkoholfreies Weizen und bin erst nach einer guten halben Stunde zum beschwerlichen Gang ins Camp zu motivieren.
7. Etappe: Sarnthein nach Brixen
- Startzeit: 08:30
- Gesamt Kilometer: 36,4 km
- Gesamt Höhenmeter im Aufstieg: 1934 Hm
- Gesamt Höhenmeter im Abstieg: 2348 Hm
Heute ist mir nun alles egal. Der Veranstalter wird vermutlich jeden noch irgendwie ins Ziel hieven, so lange er noch gehen kann und ich kann ohne Verluste alles aus mir herausholen.
Schon das Loslaufen morgens fällt mir unendlich schwer und ich komme gar nicht
mehr in einen flüssigen Lauf hinauf. Wenigstens verläuft der erste Anstieg
vorbei am Schloss Reinegg an VP 1 und VP 2 hinauf zum Latzfonser Kreuz nicht
allzu steil auf breiteren Wegen, die mich, im Verhältnis zu den letzten Tagen,
schnell aufseiten lassen. Heute bleiben wir auch fast durchgehend unterhalb der
Baumgrenze und damit in für mich gewohnterem Umfeld. Kuhweide um Kuhweide wird
passiert und auf einer Hochfläche geht es im stetigen Wechsel über verblockte
Wiesen hinauf zum Königsanger und wieder hinunter zum Tannefrit-Kreuz bei VP3.
Von der Landschaft bekomme ich nichts mehr mit, weil mir jeder Downhill
unglaubliche Schmerzen im Knie bereitet. Der Abstieg vom Königsanger erfolgt
über Singletrails in Serpentinen und lässt sich selbst mit Stöcken für mich
nicht mehr vernünftig meistern. Andy wartet hier oft sehr lange auf mich und
wir können erst nach dem letzten VP auf den breiteren Wegen wieder gemeinsam
langsam Richtung Ziel laufen. Nach dem Ploner Hof ca. 3 km vor dem Ziel lass
ich ihn wieder ziehen und mach mich alleine auf die letzten Kilometer. Langsam
wird es richtig warm – der Süden grüßt – aber ich möchte nicht mehr anhalten,
meinen Rucksack abnehmen und mich von Bekleidungsschichten trennen. Nur noch
stetig Richtung Ziel… Völlig erschöpft und unkonzentriert rutsche ich auch noch
auf nassen Holzstufen aus und lege mich rücklings auf die Stufen. Der Schock
ist groß, aber zu meinem Erstaunen ist auch dieser Sturz ohne Folgen geblieben.
Aufstehen und weiter geht es.
Ich erblicke eine junge Frau, deren Fuß mit dem Schuh bandagiert wurde und sich
nun auf ihren Partner gestützt Richtung Brixen bewegt, dabei vor Schmerz heult,
während ein Mitglied der Bergwacht sie vorsorglich begleitet. (Sie sollte es
tatsächlich noch schaffen und auch gewertet werden, weil sie als Team aus
eigener Kraft noch nach Brixen gelangt sind!) Kurz vor dem Ziel lege ich bei einer
Gruppe junger und freundlicher Mädchen an einem Colastand (hatten die überhaupt
etwas anderes angeboten? Ich weiß es nicht)
noch einmal eine Pause ein und trinke ausgiebig. Ab da kann ich das
Gefälle nur noch gehend bewältigen und werde von verschiedenen Läuferpaaren
eingeholt; und es ist mir in diesem Moment auch so etwas von egal. Ich habe es
gleich geschafft und alles andere ist unwichtig geworden.
Beim letzten
Kilometerschild sitzt Andy und wartet auf mich. Anscheinend sieht er mir an,
dass ich Schmerzen habe, denn ganz sanft motiviert er mich dazu, die letzten
1000 Meter (!!!) durch Brixen, auf flachen Wegen noch laufend zu schaffen.
Unter unglaublichem Applaus erreichen wir den Marktplatz, überqueren die 7 Tage
herbeigesehnte Linie und ich bin noch nicht einmal in der Lage in diesem Moment
eine Gefühlsregung zu zeigen. Ich lasse mir einfach die Medaille umhängen, hole
mir etwas zum Trinken und setze mich auf den vollen Marktplatz zwischen Läufern
und ihren Begleitpersonen und Familien. Langsam hole ich mein Handy aus dem
Rucksack und versuche meine Frau anzurufen. Erst jetzt wird mir bewusst, was
diese Woche gefordert hat, aber auch was sie sportlich und menschlich bedeutet.
Langsam kullern mir die Tränen über die Wangen…
ZIEL
Beim Camp angelangt werden wir mit Wodka begrüßt und dürfen
uns in einer riesigen Sporthalle völlig ungestört ausbreiten, denn anscheinend
ist es im Lauf der Woche zu einem nicht unerheblichen Schwund an
Campteilnehmern gekommen; eine, wie ich finde, bedauerliche Situation, denn
diese allabendliche Gemeinschaft mit unterschiedlichsten Menschen ist einfach
unglaublich erheiternd, interessant und auch bereichernd.
Wir liegen nach dem Duschen noch ein wenig auf unseren Isomatten, schicken
Grüße in die weite Welt und versuchen ein wenig zu Dösen, jedoch ohne Aussicht
auf Erfolg. Zu groß ist der Hunger und die Aussicht auf die abendliche
Abschlussfeier, weshalb wir uns aufraffen und schon vorzeitig Richtung
Feierhalle gehen, denn Bier gibt es schon viel früher und auch in gewünschter
und benötigter Menge (die Mengen an Alkohol, welche die Sportler im Laufe des
Abends trinken sollten, überrascht mich selbst nach den letzten Tagen doch ein
wenig, stößt aber auf keine große Gegenwehr meinerseits) – nur leider in 0,33er
Flaschen, was einem Franken oder Bayer schon etwas befremdlich erscheint.
Konsequenz: Man muss einfach viel öfters aufstehen und unerwünscht viel laufen.
Nach vielen Worten und Siegerehrungen, nach einem ausgiebigen Abendessen und vielen Glückwünschen untereinander, wird JEDER Läufer einzeln aufgerufen, darf nach vorne kommen und sein Finishershirt in Empfang nehmen. Einfach nur geil! Ich ziehe es gleich an, hänge mir meine Medaille (ich habe sie nur kurz zum Duschen abgenommen und nehme mir vor, sie auch morgen zu tragen) wieder um, trinke das Bier in Ruhe aus – und mache mich mit Andy auf den Weg in die Stadt, um in einem Restaurant noch ein weiteres Abendessen aufzutreiben. Einen solchen Bärenhunger, wie in dieser ganzen Woche, habe ich in dieser Form noch nie gekannt. Ich könnte den ganzen lieben langen Tag einfach nur noch essen und nehme trotzdem ab.
Zu sehr unterschiedlichen Zeiten treffen Nachts die verschiedenen Mitstreiter wieder im Camp ein, was jedoch niemanden mehr stört. So zufrieden habe ich schließlich schon lange nicht mehr geschlafen…
Weitere Fotos findet ihr auf meinem Nikon Image Space Account:
http://img.gg/CTpNKsF