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JUNUT 239 – das falsche Ziel, das richtige Ziel

  • Freitag, 04. April 2025
  • 177 km + 4500 HM
  • 32 h 45 min

Donnerstag – der Vortag

Ich steige Mittags in Dietfurt aus dem Bus – es wird ein schöner Tag, das Wochenende wird schön werden. Die Sonne lacht. Die An- und Abreise sind entspannt geregelt. Die Vorbereitung lief nicht perfekt, aber gut. Nun soll es im dritten Anlauf klappen: Mein erster Lauf über mehr als 100 Meilen – und wahrscheinlich auch mein letzter. Lange trage ich diese Idee schon vor mir her und habe mehrere Anläufe unternommen. Bei manchen stand ich am Start, wie beim JUNUT 2023 oder beim Ultrabalaton, und musste mal später, mal früher aussteigen. Bei anderen durfte ich gar nicht erst starten, TGC 360°, oder wurde durch einen Rennabbruch, JUNUT 2022, gestoppt. Nun soll es endlich klappen, schließlich habe ich mir für die nächsten Jahre eine Rückbesinnung auf andere Distanzen vorgenommen und gleichzeitig doch noch einmal nach dem UB und dem TGC360 geschielt.

Auf gute Freunde – 2012 hatten wir uns kennengelernt – eine lange Zeit

Ich muss mich mental auf die Wettkämpfe einstellen, brauche Zeit vor und nach dem Rennen, um es genießen zu können: das Zimmer ist von Donnerstag bis Montag in DER JUNUT Gaststätte reserviert – zwei Nächte nutzen, vier bezahlen, ist dann halt so.
Ich sitze Mittags in der Sonne am Bach und lass die Gedanken kreisen: über den Stellenwert des Sports in den letzten Jahren, über die Wendungen im Leben und über Ziele im einem und anderem. Es fühlt sich alles im Lot an, als Andy und ich die Startunterlagen abholen und danach Kaffee trinken gehen und über Gott und die Welt quatschen.
Abends schließt das Briefing und die Pastaparty an und die Gespräche kreisen nun nur um den JUNUT, was für Außenstehende furchtbar sein muss, aber deutlich macht, wie tief die Menschen in dieses Thema eintauchen. An dieser Stelle schon einmal ein großes Dankeschön für die gelungene Orga – alles klappt reibungslos und der Morgen kann kommen.

Freitag – der Rennstart

Frühstück ist wichtig! Ich versuche ausgiebig und in Ruhe (dafür lieber zeitig aufstehen) zu essen, zu trinken und mich zu fokussieren. Aus Gesprächen versuche ich mich herauszunehmen, obwohl etliche Teilnehmer und Helfer im Speisesaal unterwegs sind. Der Fokus wandert in mich hinein, ein Gefühl das ich nur zu gut kenne, andere Menschen verlieren an Bedeutung, die Gedanken bewegen sich einem Film ähnlich entlang der Aufgabe.
Mit der ersten Startgruppe geht es um 09:00 los und mein erstes großes Ziel ist Matting bei km 78. Bei strahlendblauem Himmel laufe ich mit angezogener Handbremse und ganz entspannt los. Bewusst versuche ich mich an keinen Gesprächspartner lange zu hängen, mich weniger zu unterhalten, um meinen eigenen Rhythmus zu finden und zu laufen – es klappt. Ich esse und trinke an den VP ausgiebig, aber schnell. Die trockenen und nicht vermatschten Böden, wie sie in der Vergangenheit der Fall waren, tragen ebenfalls ihren Teil dazu bei, dass ich spürbar schneller und trotzdem locker vorwärts komme. In Matting wechsle ich auf die eingeplante Bekleidung für die kalte Zeit. Die Sonne ist schon untergegangen und damit wird es deutlich frischer. Der Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht ist an diesem Wochenende deutlich größer als sonst. Ohne Wartezeit fährt uns die FFW in der Dunkelheit über die Donau und ich trete den zweiten Teil meiner Reise nach Schmidmühlen bei km 138 an. Aber ist es überhaupt noch meine Reise?

Samstag – die Entscheidung

Durch die Nacht geht die Reise alleine und ich werde hin und wieder von den schnelleren Teilnehmern mit späteren Startzeitpunkten überholt. Meist laufe ich langsam und ruhig ganz alleine durch den Wald, über die Felder und selten durch ein Dorf. Ich komme bei mir an. Ich verliere das Gefühl des Wettkampfs. Alles in dieser Nacht. Die Beine werden morgens schwerer und ich gehe alle Anstiege, was ich erwartet hatte und trotzdem mache ich noch immer Zeit auf meine Planung gut. Die Sonne steigt höher und ich ziehe Schicht für Schicht der Bekleidung wieder rechtzeitig aus, um nicht zu überhitzen – perfekt, das hatte ich nicht immer gemacht. Eigentlich ist bisher alles perfekt gelaufen: Verpflegung, Pacing, Bekleidung, Dropbag, Rhythmus – ich könnte den Rest wandern und würde noch immer finishen.
Vormittags erreiche ich Schmidmühlen und halte meinen Dropbag zum zweiten Mal in den Händen. Ich bin zeitlich vor den meisten anderen hier und alles läuft ruhig und entspannt. Geräte werden geladen, schnell aber viel gegessen, umgezogen, warme Klamotten für die zweite, sehr kalte Nacht in den Rucksack gepackt, Flaschen aufgefüllt – alles in allem etwas mehr als 30 Minuten kostet mich das, aber die gründliche Vorbereitung auf den nächsten Abschnitt nach Deining bei über km 200 ist mir wichtig, hat sich bisher auch bewährt. Was ich hier investiere, ernte ich später. 2023 bin ich hier ausgestiegen – es waren die wenigen Wochen in denen ich wusste, das meine Ehe zu Ende geht, die Trennung formal aber noch aussteht und von uns beiden gleichermaßen innerlich aber noch nicht offiziell vollzogen wurde – war der Kopf nicht willens weiterzumachen.
Heute? Ich merke die schweren Beine (was für eine Überraschung…), aber merke auch, dass der Körper sehr gut funktioniert. Ich will weiter, will neue Wege einschlagen und es geht auch weiter. Die Landschaft wird lieblicher, Magerrasen und lichtere Wälder wechseln sich ab, die berühmte Leitplanke wird überklettert, die Helfer sind großartig und liebevoll – und trotzdem sitze ich am nächsten VP und habe nicht mehr das Gefühl, dies zu wollen. Ich fühle mich nicht mehr als Teil des Rennens. Ich stehe auf, und gehe weiter. Es folgen noch weitere 6 Stunden für nur 22 km bis Kastl bei km 170, dem Abschluss der 100 Meilen Läufer. Ich sitze zwischendrin auf einer Bank und schau in die Landschaft. Gehe viel und laufe nur noch ganz langsam. Ich verlaufe mich mehr als einmal und muss erkennen, dass ich in einer seltsamen Situation bin. Der Körper ist auf 239 km vorbereitet und würde dies auch zu Ende bringen, nicht elegant und nicht als Schnellster, aber vernünftig und mit erhobenen Hauptes, aber der Kopf ist nicht mehr hier. War er überhaupt darauf eingestellt?

Nein, war er nicht. Ich hatte vor dem Start schon mit dieser Distanz abgeschlossen. Ich liebe das Laufen in der Natur, liebe lange Strecken, liebe die Bewegung, liebe die Zeit mit guten Freunden bei diesen Unternehmungen, liebe das Eintauchen in diese Welt über mehrere Tage als Etappen. Aber: ich merke, dass ich nicht das ewige Wandern am Ende der Rennen (mehr) möchte, bei dem kaum vorwärts gekommen wird, weil man schon stehend fertig ist. Merke, dass ich nicht mehr Nacht um Nacht durchlaufen möchte, in der ich nichts mehr sehe und wahrnehme, in der ich bei absackendem Kreislauf mit der Kälte umgehen muss. Merke, dass ich gerne über Tage in diese Welt eintauche, aber halbwegs ausgeruht am nächsten Tag starten möchte und nicht völlig übermüdet. Merke, dass ich Wettkämpfe noch immer liebe, wenn sie kürzer sind. Merke, dass ich lange Strecken gerne für mich selbst plane.
Merke, dass dies schon länger der Fall ist, ich es aber ignoriert habe. Ich muss mir sportlich nichts mehr beweisen. Der Fokus kann im Leben breiter sein, ohne den schönsten Sport der Welt aus den Augen zu verlieren.
Mit einem Lächeln komme ich nach den 6 Stunden an, ignoriere die gut gemeinten Worte der Helfer und des Veranstalters, setze mich hin, mache mir ein Bier auf und schließe dieses Kapitel. Nun passt der Sport, wieder zu meinem veränderten Leben. Eine Tür geht zu, eine Tür geht auf.

Euer Thorsten

PS: Zurück im Gasthof, noch immer in Laufklamotten, Samstag Abend, seit zwei Tagen wach, noch immer nichts in Ruhe gegessen, noch ungeduscht, erwischt mich der Stammtisch mit einem anderen Teilnehmer des Laufes, einem Bekannten. Die nächsten Stunden wird gelacht, getrunken, eingeladen und ich schlafe später bei Festbeleuchtung auf dem Zimmer ein.

In Kastl beim Veranstalter